(Victor Hugo, französischer Schriftsteller)
2018 begann ich damit, die verbleibenden Gletscher der Alpen zu porträtieren. Angesichts der sich rasch vollziehenden Klimakatastrophe erscheinen die Alpengletscher mir wie eine selten gewordene Spezies am Rande der Ausrottung. Die Berechnungen lassen erwarten, dass etwa die Zunge des größten Gletschers Österreichs (die Pasterze) innerhalb der nächsten 40 Jahre vollständig verschwinden wird1. Aufgrund der Langlebigkeit von Kohlendioxid in der Atmosphäre ist das selbst nach einem vollständigen Emissionsstopp für mindestens 1000 Jahre nicht rückgängig zu machen2. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass das Eis in seiner ursprünglichen Mächtigkeit innerhalb vorstellbarer Zeiträume wieder zurückkehren wird. Aus der Perspektive unzähliger folgender Generationen sind dies also die letzten Gletscher der Alpen.
Eine Geschichte von Veränderungen
Das Klimasystem der Erde befindet sich seit 34 Millionen Jahren im sogenannten Känozoischen Eiszeitalter. Als “Eiszeitalter” werden Abschnitte in der Erdgeschichte bezeichnet, in denen mindestens ein Pol vergletschert ist. Aufgrund der Verschiebung von Landmassen, der Auffaltung von Gebirgen, sowie der Veränderung von Meeresströmungen und CO2-Konzentrationen in der Atmosphäre, begann damals die Vergletscherung der Antarktis. Nach einem damit verbundenen kontinuierlichen globalen Abkühlungstrend setzte vor 2,7 Millionen Jahren auch die Formation des nordpolaren Eisschildes ein.
Das Klimasystem der Erde wechselte innerhalb des Känozoischen Eiszeitalters stets zwischen “Kaltzeiten” (Glazialen) und wärmeren Phasen (Interglazialen, auch “Warmzeiten” genannt). Diese Veränderungen wurzeln im Wesentlichen in den periodischen Variationen der Erdumlaufbahn um die Sonne und der Erdrotationsachse (Milanković-Zyklen). Die dadurch entstehenden Änderungen in der Stärke und Verteilung der Sonneneinstrahlung werden langfristig von Rückkoppelungen im Klimasystem verstärkt. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre. Die derzeitigen Gletscher der Alpen sind Überreste des letzten, im Alpenraum als “Würm-Kaltzeit” bezeichneten Glazials. Damals war etwa das Salzburger- und Klagenfurter Becken unter Gletschern begraben. Das arktische Eisschild reichte bis nach Berlin. Diese Phase endete vor etwa 12.000-10.000 Jahren, als die Temperaturen – ausgelöst durch veränderte Erdbahnparameter – wieder zu steigen begannen und unser Planet in das jetzige Interglazial eintrat. Diese aktuelle geologische Epoche, die als “Holozän” bezeichnet wird, war bis Mitte des 20. Jahrhunderts bezüglich der globalen Durchschnittstemperaturen relativ stabil. Diese Stabilität der Umweltbedingungen bildete schließlich die Grundlage zur Entwicklung der menschlichen Zivilisation.
Östlicher Ansatz des Ghiacciaio della Marmolada Gletschers an der Nordseite der Marmolata (Dolomiten/Italien).
Das Holozän kommt jedoch zu seinem Ende. Aufgrund rein natürlicher Faktoren, insbesondere der Erdbahnparameter, sollten wir uns eigentlich in einem langfristigen Abkühlungstrend befinden. Wie es auch innerhalb der letzten Million Jahre regelmäßig geschehen ist, würde dieser in einigen tausend Jahren in die nächste Kaltzeit (Glazial) münden. Dementsprechende Gletschervorstöße wie etwa in der Würm-Kaltzeit wären vorprogrammiert. Die großskalige Verwendung von fossilen Brennstoffen seit der industriellen Revolution aber hat diesem Trend massiv entgegengewirkt. Die seit gut 150 Jahren stattfindenden enormen Eingriffe in die Chemie der Atmosphäre durch die Nutzung von Kohle, Erdöl und Gas bewirken aus erdgeschichtlicher Sicht eine extrem schnell voranschreitende Erwärmung des Planeten.
Die Geschwindigkeit der aktuellen Freisetzung von kohlenstoffbasierten Treibhausgasen in die Atmosphäre ist beispiellos zumindest innerhalb der letzten 66 Millionen Jahre der Erdgeschichte3. Den Anfang der nächsten Kaltzeit (Glazial) haben wir mit den seit der Erfindung der Landwirtschaft angesammelten Eingriffen ins Klimasystem bereits um mindestens 100.000 Jahre verschoben4. Falls wir Kohle, Öl und Gas weiterhin uneingeschränkt verbrennen, könnten wir unseren Planeten innerhalb von nur wenigen menschlichen Generationen in eine sogenannte Heißzeit katapultieren5. Diese würde den klimatischen Bedingungen vor etwa 50 Millionen Jahren entsprechen, als der Planet praktisch eisfrei war6. Eine derartige Welt wäre eine völlig andere als jene, in der sich der Homo Sapiens und insbesondere die menschliche Zivilisation des Holozäns entwickelt hat. Angesichts der geologisch dokumentierten Massenaussterben in der Vergangenheit könnte die hohe Geschwindigkeit dieser Veränderungen außerhalb evolutionärer Anpassungsmöglichkeiten liegen6. Zumindest würden große Teile des Planeten für Menschen unbewohnbar werden7.
Eine rasch verschwindende Welt
Natürlich sind nicht nur die Alpen von rapiden Verlusten betroffen. Überall auf der Erde schmelzen Gletscher mit alarmierenden Geschwindigkeiten. Das gilt insbesondere für die großen Eismassen Grönlands und der Antarktis, deren Schmelze sich viel schneller entwickelt als vorher angenommen8. Die weltweit gesammelten Beobachtungen des World Glacier Monitoring Service (WGMS) sprechen eine klare Sprache (siehe folgende Grafik). Obwohl es in ein paar Gebieten (z.B. Südpatagonien) einige wenige Gletscher gibt die vorstoßen, sind diese Entwicklungen seltene Resultate von speziellen topografischen und/oder klimatischen Bedingungen (etwa erhöhter Niederschläge)9. Der überwältigende Großteil der Gletscher auf der Erde befindet sich seit mehreren Dekaden auf Rückzug.
Massenänderungen von Referenzgletschern relativ zu 1976 (World Glacier Monitoring Service, Farben der Grafik invertiert).
Man beachte die seit dem Jahr 1990 steil fallende graue Kurve Zentraleuropas (Übersetzung: Christian Bock).10
5000 Gletscher in 6 Ländern
Obwohl sich das Eisvolumen der Alpen in den letzten Jahrzehnten stark reduziert hat, ist der Gebirgszug immer noch Heimat von etwa 5000 Gletschern. Die meisten nehmen aber nur noch relativ geringe Flächen ein. Meine aktuelle Reise führt mich durch Österreich, Italien, Deutschland, Slowenien, die Schweiz und Frankreich. In Slowenien und teils auch in Deutschland gibt es nur noch ausgesprochen kleine Eiskörper. Rein technisch gesehen sind diese keine Gletscher mehr, sondern sogenanntes “Toteis”. Aufgrund der sich verändernden Temperatur- und Niederschlagsverhältnisse kann praktisch kaum neues Eis mehr in den höheren Nährgebieten gebildet werden. Diese Gletscher zeigen deshalb kein Fließverhalten mehr und schmelzen daher ohne Massenbewegung an Ort und Stelle ab. Ein derartiges Schicksal erwartet wahrscheinlich viele Alpengletscher bereits innerhalb dieses Jahrhunderts. Ein prominentes Beispiel dafür könnte in wenigen Jahren die massive Zunge von Österreichs größtem Gletscher sein. Der untere Teil der Pasterze wird nur noch über drei schmale Eisrinnen von weiter oben mit Nachschub versorgt.
(Fortsetzung folgt …)
Der allmählich zerfallende obere Teil der Pasterzenzunge (Hufeisenbruch). Nur noch drei schmale Eisrinnen verbinden den massiven unteren Part des Gletschers mit seinem höhergelegenen Nährgebiet (Glocknergruppe/Österreich).
Quellenangaben:
1 ZAMG – Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik, News, Gletscher heuer extrem stark geschmolzen, 31. Oktober 2017
2 Irreversible climate change due to carbon dioxide emissions, Solomon et al., Proceedings of the National Academy of Sciences, Februar 2009
3 Anthropogenic carbon release rate unprecedented during the past 66 million years, Zeebe et al., Natue GeoScience, März 2016
4 Critical insolation–CO2 relation for diagnosing past and future glacial inception, Ganopolski, Schellnhuber et al., Nature, Januar 2016
5 Trajectories of the Earth System in the Anthropocene, Steffen et al., Proceedings of the National Academy of Sciences, Juli 2018
6 Pliocene and Eocene provide best analogs for near-future climates, Burke et al., Proceedings of the National Academy of Sciences, Dezember 2018
7 Global risk of deadly heat, Mora et al, Nature Climate Change, Volume 7, Juli 2017
8 Climate change prediction: Erring on the side of least drama?, Brysse et al, Global Environmental Change, Oktober 2012
9 IPCC: 5th Assessment Report, Working Group I, Observations: Cryosphere, Are Glaciers in Mountain Regions Disappearing? S. 345
10 The current State of Glaciers around the world, World Glacier Monitoring Service, https://wgms.ch/downloads/_FAQ_RefGlac_Regional_Cum_MB.svg, letzter Zugriff: 04.12.2018